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Klassenliteratur

u.a. Édouard Louis, Daniela Dröscher & Christian Baron.


 

"Seit Eribons Rückkehr nach Reims (2016) ist die Klassenliteratur, nachdem sie sich zuvor in England und Frankreich etablierte, in der deutschsprachigen Literatur auf dem Vormarsch und in den Diskursen zur sozialen Ungleichheit von hoher Relevanz. In den Feuilletons wird dabei das Wesen dieser Gegenwartsliteratur diskutiert, ob sie zur Literatur zugezählt werden kann, wie sie zu verorten und damit auch zu deuten ist. Je nach Prägung des Mediums kann sich die Wahrnehmung verlagern. Dennoch gelten mit der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, dem Soziologen Didier Eribon und dem Philosophen Édouard Louis drei ihrer Protagonist*innen hierzulande, bereits als in der Literaturwelt verankert (vgl. Prinz, 2024; Reuter, 2020). In den letzten Jahren kann dieses sozialliterarische Genre zudem eine Vielzahl von wissenschaftlichen Beiträgen aufweisen, die ihr hybrides Wesen aus Autobiografie und gesellschaftlicher Erzählung, zu ergründen versuchen (siehe Blome et al., 2022). 

Ferner ist relevant, ob die Klassenliteratur es vermag, in Zeiten tiefer gesellschaftlicher Umbrüche (u.a. Klimawandel, Digitalisierung und Unruhen), Orientierung für ihre Rezipient*innen zu verschaffen. Während zu Zeiten der sozialen Marktwirtschaft, der Aufstieg durch Bildung im Sinne des meritokratischen Leistungsprinzips als gesichert galt, steht heutigen Hochschul-Absolvent*innen - von denen es mehr gibt als je zuvor (iwd, 2023) - ohne finanzielles und soziales Fallnetz, die Welt angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten längst nicht mehr so offen. Hier erlebt daher der Begriff der Klasse und die Einsicht, dass diese auch in Deutschland eine Rolle spielt, eine spürbare Renaissance. Die Ideen rund um Transclasse (Jaquet, 2018, Ernst 2022b) könnten Wege aufzeigen, wie Personen aus beherrschter Lage der  Spirale der strukturellen Klassengewalt - manifestiert in der Zerrissenheit des gespaltenen Habitus - durch das Entwickeln von Klassenbewusstsein entkommen und in Folge dessen, postbürgerliche Individuen werden.

Kann die Autosoziobiografie hier Unterstützung bieten?"

Ein Auszug aus meinem Text "Klassenliteratur als Resonanzraum sozialer Ungleichheit" (2025).

Zur Klassenliteratur

Disclaimer

Es gibt eine Vielzahl herausragender Bücher mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, die oft auch intersektionale Ansätze verfolgen. Internationale Wissenschaftler*innen wie Angela Davis, bell hooks und für den deutschsprachigen Raum Francis Seeck haben mit ihren Arbeiten wichtige Beiträge zu verschiedenen gesellschaftlichen Debatten im DEI-Diskurs (Diversity, Equity & Inclusion) geleistet. Die hier vorgeschlagenen Top-Listen sind daher als ein Einstieg oder Überblick zu verstehen, nicht als abschließende Empfehlungen. Besonders empfehlenswert hingegen ist das Netzwerk Chancen e.V., das seit diesem Jahr einen aktiven Buchclub betreibt und eine umfassende Übersicht aktueller Werke bietet – inklusive einer Schwerpunktseinordnung

Ein Hinweis noch zur Klassenliteratur: Sie deckt das politische Spektrum von links bis rechts ab, von Olivier Davids „Keine Aufstiegsgeschichte – Wie Armut psychisch krank macht“ bis hin zu Doris Märtins Karriereratgeber „Habitus – Sind Sie bereit für den Sprung nach oben“.

5 Top-Romane der Autosoziobiografie

Diese Romane zeichnen sich dadurch aus, dass sie persönliche Lebensgeschichten mit sozialen Strukturen verknüpfen und damit soziologische Reflexion ermöglichen. Sie erzählen vom Ringen um Identität, Anerkennung und gesellschaftlichen Aufstieg, Ausstieg oder Abstieg:

  1. Anleitung ein anderer zu werden (Louis, 2022) – Eine bewegende Selbstreflexion und ein Blick auf soziale Mobility und Selbstwahrnehmung. Hochkultur und literarische Vibes à la Call me by your name und daher in meinen Augen ganz großes Kino.

  2. Daddy Issues (Pesut, 2018) – Thematisiert familiäre und gesellschaftliche Prägungen zwischen Sisak (einer einst blühenden Industriestadt und nun im Verfall) und der aufstrebenden Hauptstadt Zagreb, die wiederum nicht alle an ihrem Aufstieg teilhaben lässt.

  3. Jahre mit Martha (Kordić, 2022) - Thematisiert zunächst einen akademischen Aufstieg mithilfe sozialer Pat*innen, z.T. unkonventionelles soziales Kapital (Jahresunterschiede im gegensätzlich sexuellen Part und dann Begünstigung durch einen homosexuellen Förderer in academia) bis zum akademischen Ausstieg. 

  4. Lügen über meine Mutter (Dröscher, 2018) – Über transgenerationales Erbe und verschiedene kulturelle Einflüsse der jeweiligen Elternteile (schlesischer Hintergrund vs. lokal alteingesessen). Zudem Einblicke in die westerwäldische Provinz. Auch das Buch "Zeige deine Klasse" der Autorin ist sehr zu empfehlen.

  5. Der Fall Miriam Behrmann (Lewitsch, 2024) – Hier liegt der Schwerpunkt auf die zunehmend konfliktgeladene Beziehung einer Doktormutter zu ihrer Doktortochter in Academia.

 

 

5 Top-Sachbücher Autosoziobiografien

  1. Wir von unten (Nepomnyasha, 2024) – Dokumentation sozialer Kämpfe und Aufstiegsmöglichkeiten aus der Perspektive marginalisierter Gruppen. Sehr wirtschaftsnahe Einblicke und mir gefällt auch der Titel, da tatsächlich Leute von unten angesprochen werden und nicht nur Arbeiter*innenkinder, die ja oft auch aus der Mittelklasse entspringen können.

  2. Zugang verwehrt (Seeck, 2022) – Thematisiert systematische Ausschlüsse und Barrieren in Bildung und Arbeitswelt sowie das Aufwachsen bei einer alleinerziehenden Mutter im Nachwendeberlin. Eine sehr empfehlenswerte, da kompakte wie verständliche Einstiegslektüre.

  3. Auf uns gestellt (Hunter, 2023) – Packende Analyse von Selbstorganisierung und Empowerment in prekären Lebenslagen in Verbindung mit eigener Biografie

  4. Für Euch! (Sayram, 2020) – Berichtet von solidarischen Netzwerken und sozialem Zusammenhalt unter schwierigen Bedingungen in einem schwierigen Kölner Innenstadtteil, in einer mitreißenden Sprache geschrieben.

  5. Du bleibst, was du bist (Maurer, 2015) – Beschäftigt sich mit verfestigten sozialen Identitäten und dem Kampf um Anerkennung vor allem im Schulwesen, auch wiederum mit autobiografischen Anteilen.

 

 

5 Top-Sachbücher Soziologie sozialer Ungleichheit und Erziehungswissenschaft

Diese Bücher bieten fundierte wissenschaftliche Grundlagen zum Verständnis gesellschaftlicher Ungleichheiten und den Mechanismen ihrer Reproduktion:

  1. Vom Arbeiterkind zur Professur (Reuter et al, 2020) – Empirisch fundierte Studien zu Bildungskarrieren prekärer Herkunft. Professor*innen geben Einblicke in ihre Hintergründe und diesbezügliche Herausforderungen. Julia Reuter schreibt über literarische Selbstzeugnisse zwischen Autobiografie und Sozioanalyse.

  2. Einführung in die Soziologie zur sozialen Ungleichheit (Burzan, 2005) – Grundlegende Theorien und aktuelle Forschungsansätze. Endlich souverän mit den Begrifflichkeiten Milieus, Schichten und Klassen jonglieren.

  3. Bildung und Habitustransformation (von Rosenberg, 2011) – Eine vertiefte Betrachtung des Habitus- und Kapitalkonzepts nach Bourdieu mit Fokus auf soziale Mobilität. Von Rosenberg verbindet die Habitus Transformation aus der Soziologie mit den transformatorischen Bildungsprozessen in den Erziehungswissenschaften.

  4. Erfolgreiche Bildungsaufstiege (Spiegler, 2018) – Analyse von Bildungswegen und deren Bedeutung für gesellschaftlichen Wandel. Bildungsaufsteigende werden nach unterschiedlichen Charakteristika geclustert.

  5. Gesellschaft als Urteil & Rückkehr nach Reims (Eribon, 2016 und 2017) – Reflexion sozialer Klassen, Selbst- und Fremdwahrnehmung... Nach den Werken von Bourdieu, sehr bedeutend für die Auflebung des Diskurses in Deutschland. Retour à Reims ist bereits 2019 in Frankreich erschienen!

 

 

5 Top-Filme und Serien mit soziologischem Erkenntnisgewinn

Diese audiovisuelle Auswahl setzt gesellschaftliche Themen filmisch um und vermittelt Einsichten in soziale Dynamiken, Klassenfragen und Identitätskonflikte:

  1. Per im Glück (Netflix; Verfilmung dänischer Weltliteratur Lykke Per) – Coming-of-Age-Drama über Emanzipation und soziale Mobilität.

  2. Saltburn – Psychologisch dichte Auseinandersetzung mit Macht, Reichtum und sozialer Zugehörigkeit.

  3. Ein Mann seiner Klasse (Verfilmung auf der Basis des Romans von Christian Baron) – Realistisches Portrait aus der Arbeiterschicht in der westdeutschen Provinzhauptstadt mit Fokus auf soziale Ungleichheit.

  4. Der talentierte Mr. Ripley – Thriller über Hochstapelei, Identitätswechsel und gesellschaftliche Klassen.

  5. Inventing Anna (basierend auf der Lebensgeschichte von Anna Sorokin) – Dramatisierung von Betrug und sozialem Aufstieg durch Täuschung.

 

 

Weitere Empfehlungen

  • Bildungsromane wie Buddenbrooks oder Werke von Proust bieten zeitlose Einblicke in Gesellschaftsschichten und deren Verwerfungen. 

  • Romane der „Wohlstandsverwahrlosung“ à la Christian Kracht (Faserland, Eurotrash) spiegeln die Leere und Suche nach Sinn in privilegierten Milieus wider.

  • Kapitalismuskritische Essays und Klassiker wie Karl Marx bieten fundamentale Kritiken wirtschaftlicher Strukturen, ergänzt durch neuere Beiträge wie Lottes Die Gestörten aus der deutschen Essayistik.

  • Werke als Vorläufer der schonungslosen Selbstentblößung à la Adornoss "das Private ist politisch", exemplarisch etwa Hervé Guiberts Mitleidsprotokoll und seinen AIDS-Bericht Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat.

  • Schelmen- und Hochstaplerliteratur wie Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, der König von Albanien oder Fürst Lahovary bieten unterhaltsame Betrachtungen zu Betrug, Identität und einen möglichst schnellen sozialem Aufstieg.

Diese erweiterte Liste bietet eine breite, vielschichtige Perspektive auf soziale Ungleichheit, Klassenfragen und Identitätsprozesse aus literarischer und soziologischer Sicht und lädt zu vertiefender Auseinandersetzung ein.

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